HVS-News 2020/3 – Versinken mit dem Wind

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Kolumne von Omri Ziegele

Da gibt es diese Linde, die grosse, alte; imposant steht sie am Eingang des Hausparks hier, wo ich sommers bin, südlich des Gotthards. Ich kenne niemand, der so beredt wäre wie sie. Wenn ihre Blätter sirren & surren, möchte man versinken mit dem Wind.

Da gibt es diese Menschen und ihre hausgemachte Imposanz; spätestens seit der Erfindung der Wissenschaft meinen sie, der grossen Wahrheit auf der Spur zu sein und wenn nicht heute, so spätestens morgen wäre alles Wissbare gewusst. Alles bis in den allerhintersten Winkel des Universums. Die Mediziner sind da keine Ausnahme, allen voran die Schulmediziner. Brüsten sich damit, dass sie den Tod bald abschaffen und selbstverständlich auch jede Krankheit.

Und dann kommt so ein winziges Viech, das sie Corona nennen, weils unter dem Mikroskop einer Krone ähnelt – und wohl möglichst harmlos tönen soll –, und bringt alles zunderobsi. Haben Sie gesehen, wie die Wissenschaftler sich gewunden haben, wenn es darum ging, Einzelheiten zu erörtern; wie sie schwitzten und stotterten und niemals, niemals hätten zugeben können, dass sie nicht wissen. Oder besser: nichts.

Krankheit ist. Sie gehört zum Leben wie alles Leiden. Bloss wir tun so, als hätten wir alles unter Kontrolle und als wäre Sterben & Tod ein Irrtum der Natur. Wir sind beharrlich dabei, obwohl Nachbarn sterben, Freunde, Verwandte, wir schaudern, wir gehen kurz zum Begräbnis, wenn es die Agenda erlaubt, und das war’s. Das Leben, denken wir, findet ausserhalb des Todes statt.

Sie alle kennen den ewigen Juden Ahashver; er ist verdammt dazu, in Ewigkeit auf dieser Erde herumzuwandeln, und wird so nicht tot und nicht lebendig. No way out!

Unser Denken ist ein durch und durch exogenes; alles Böse kommt von aussen, so wie der uns alle meschugge machende aktuelle Virus. Wir gehen von einem gesunden Menschen aus und alles, was ihm geschieht, ist ein Störfall, eine Panne, ein Unfall; und wir stürzen uns auf diese malignen Mutationen des Glücks und schiessen mit medizinischen Nano-Kanonen auf sie.

Der Mensch, wusste Sigmund Freud schon, ist ein „dark continent“. Ein komplexes, ein fragiles, ein zerbrechliches Wesen. Wie konnte man das vergessen! Wie konnte man so tun, als wäre alles bestens, der Mensch, zumal mithilfe der modernen Medizin, ein optimal herzustellendes Produkt, das nur noch Genuss, Glück und Freude zu kennen braucht.

Irgendwann, irgendwo muss etwas schief gelaufen sein in der Geschichte der Menschheit. Etwas Entscheidendes ging verloren, nenn es: Stillevermögen, nenn es: Indianerblick; nenn es: Versenkungsmacht. Etwas ging schief, wenn heute nur noch die Verrückten oder die Kinder den Linden dieser Welt zuhören. Wenn deren weises Wispern stumm verhallt in den dröhnenden Hallen der ewigen Besserwisser, Lautredner und Bankrotteure des Glaubens.

Gerade ist es windstill. Kein Blatt bewegt sich. Die Linde spricht. Noch durchdringender. Und etwas geht durch mich hindurch, das tröstet und winkt und läutert.

 

Omri Ziegele // Juli // 2020
Omri Ziegele ist Saxophonist und Improvisierer.
Er spielt und kämpft und denkt. Seit zwei Jahren ist er Präsident von Suisseculture

Omri Ziegele