Das Wirksamkeitsparadox in der Komplementärmedizin

2001 veröffentlicht Harald Walach einen Artikel, in dem er das Wirksamkeitsparadox in der Komplementärmedizin behandelt. Er geht in diesem Artikel nicht spezifisch auf die Homöopathie ein, sondern beleuchtet alle sogenannt alternativen Heilmethoden.

Zur Erklärung, was er unter dem Wirksamkeitsparadox versteht, zieht Walach in seinem Gedankenexperiment ein Beispiel heran: Eine Krankheit – zwei Behandlungen, in zwei placebokontrollierten Studien getestet (mit vergleichbarer Patientenpopulation und gemessen mit denselben Instrumenten). Behandlung Y habe sich als wirksam erwiesen, Behandlung X dagegen nicht. Wirksam deshalb, weil die Behandlung Y gegenüber der Placebogruppe Y signifikant überlegen war, und zwar mit 20 % (siehe Grafik). Die Behandlung X zeigte gegenüber der Placebogruppe X lediglich eine Überlegenheit von 10 %. Die Autoren dieses fiktiven Beispiels zögen daraus den Schluss, dass Behandlung X unwirksam sei. Genau diese Schlussfolgerung bemängelt Walach, da sie ausschliesslich den relativen Unterschied zwischen Verum- und Placebogruppe innerhalb einer Behandlungsart berücksichtigt. Dieser Unterschied misst die Grösse des spezifischen Effektes einer Verumsbehandlung. Dieser spezifische Effekt stellt den Anteil am Therapieerfolg dar, der aufgrund der „eigentlichen” spezifischen Wirksamkeit der Intervention bzw. Behandlung zustande kommt. Die unspezifischen Therapieeffekte, die sich dagegen sowohl in der Verums- als auch in der Placebogruppe niederschlagen, werden nicht berücksichtigt.

Artefakte (1) , Regressionseffekte (2) und unspezifische Therapieeffekte machen das aus, was man gemeinhin als Placeboeffekt im Rahmen einer klinischen Studie bezeichnet. Die Messartefakte und die Regressionseffekte sind in beiden hypothetischen Studien X und Y gleich gross, da (theoretisch) eine vergleichbare Population mit denselben Instrumenten gemessen wurde . Die unspezifischen Therapieeffekte hängen jedoch vom Setting der Therapie und einer anderen Fülle von Faktoren ab, z.B. Erwartungen, Hoffnungen, Verhaltensweisen etc. auf der Seite des Patienten sowie die Vermittlung von Zuversicht, oder die Fähigkeit, eine tragfähige Beziehung aufzubauen seitens des Therapeuten.

In Walach’s Gedankenexperiment machen die unspezifischen Effekte in der Behandlung X 30 % des Gesamteffektes aus, bei Behandlung Y lediglich 5 %. Walach zieht daraus den Schluss, dass Behandlung X absolut gesehen viel erfolgreicher sei, weil dadurch rund 70 % der Patienten eine Besserung erfahren. Bei Behandlung Y seien es lediglich 55 %. Das Urteil der Forschung, bemängelt Walach, erkläre aber X trotzdem zu einer unwirksamen und Behandlung Y zu einer wirksamen Therapie.

Das Zustandekommen dieses Paradoxes liege darin, dass man davon ausgeht, dass die Artefakte und unspezifischen Effekte zwischen zwei Behandlungsarten ungefähr gleich gross und vernachlässigbar sind und nur die spezifischen Effekte therapeutisch wertvoll seien. Diese Voraussetzungen seien jedoch mit grosser Sicherheit falsch. Genau die unspezifischen Effekte seien hauptsächlich für die Therapieerfolge verantwortlich. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass die Therapieeffekte in Placebogruppen nicht gleich gross sind, dass die Grösse der Verumeffekte variieren und wenig mit dem Krankheitsbild zu tun haben. Unspezifische Therapieeffekte werden dadurch maximiert, wenn die Erwartungen der Patienten hoch sind und wenn das Weltbild und die Erklärungen des Arztes mit denen des Patienten gut übereinstimmen. Genau dies sei bei komplementärmedizinischen Massnahmen in hohem Masse gegeben und gerade deshalb seien sie eine gute Möglichkeit, um auf unspezifischem Wege die Selbstheilungskräfte zu stimulieren.

Ein Anliegen der Forschung sei es herauszufinden, ob eine Behandlungsform ingesamt wirksam sei und ob die Wirksamkeit über psychologische Komponenten hinausgeht. Es ist aber fatal anzunehmen, dass in komplementärmedizinischen Massnahmen die psychologischen und unspezifischen Effekte unwichtig seien. Diese Effekte, so Walach, seien die Basis, auf denen die spezifischen Effekte der Behandlung aufbauen.

Seine Schlussfolgerungen aus den Überlegungen sind: a) Für die Beurteilung der Effektivität einer Therapieform darf nicht nur die spezifische Wirksamkeit ausschlaggebend sein. b) Für das Erkennen der gesamten Effektivität sind verschiedene und umfangreiche Studienansätze erforderlich.

Abschliessend betont Walach, dass es höchste Zeit sei, dass man sich darum bemüht zu verstehen, was eigentlich die unspezifischen Therapieeffekte ausmachen. Möglicherweise zeige sich darin, wie Selbstheilungsprozesse funktionieren – und dies müsste gemäss Walach eigentlich nicht nur komplementärmedizinische sondern alle Forscher interessieren.

Erläuterungen

1 Artefakt nennt man in der Diagnostik einen scheinbaren, tatsächlich jedoch unbeabsichtigt künstlich herbeigeführten Kausalzusammenhang, zum Beispiel durch Fehler bei der Datenerhebung, -auswertung, -dokumentation oder -interpretation.
Artefakte sind durch menschliche oder technische Einwirkung entstandene Produkte oder Phänomene. Sie sind wissenschaftlich wertlos, weil sie nichts über den eigentlichen Untersuchungsgegenstand aussagen, sondern lediglich eine diagnostische Fehlerquelle darstellen.

2 Als Regressionseffekt bezeichnet man das Phänomen, dass im Normalfall nach einem extremen Messwert der nachfolgende Messwert wieder näher am Durchschnitt liegt als der erste Messwert, vorausgesetzt, die untersuchten Personen/Studienobjekte wurden zufällig ausgewählt. Ein Beispiel: Bei den Patienten, bei denen bei einer Routineuntersuchung die höchsten Blutdruckwerte festgestellt wurden, wird zu einem späteren Zeitpunkt nochmals der Blutdruck gemessen. Bei der zweiten Messung liegen die Blutdruckwerte in der Regel wieder näher beim Durchschnitt als bei der ersten Messung, auch wenn keine Behandlung des Blutdrucks erfolgte. Es ist also nicht die (Nicht-)Behandlung, die für den Effekt verantwortlich ist, sondern dieses statistische Phänomen.

Literatur

Prof. Harald Walach (2001). Das Wirksamkeitsparadox in der Komplementärmedizin. Forschende Komplementärmedizin und klassische Naturheilkunde, 8; 193-195.