HVS-News 2023/1 – Integrationsfrage

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Was stellen Sie sich vor unter einem „Zentrum für integrative Onkologie“, kurz „ZIO“ genannt? Wer oder was integriert hier wen oder was? Integriert die schulmedizinische Onkologie die homöopathische oder die homöopathische O. die schulmedizinische? Und was wäre die grössere Herausforderung? Ist es immer die Mehrheit, die eine oder mehrere Minderheit(en) integriert? Oder ist die Sache andersrum? Integriert sich eine Minderheit notgedrungen in die Mehrheit? Laut dem leitenden Arzt des ZIO Zürich kommen immer wieder Krebspatient:innen in sein Zentrum, die sich eine Behandlung ohne Chemotherapie erhoffen – wovon Dr. H. in den meisten Fällen dezidiert abraten muss. Doch wie verhält es sich im umgekehrten Fall: Rät ein(e) Schulmediziner:in dezidiert davon ab, auf homöopathische Unterstützung zu verzichten? Nicht unbedingt.

Denn „Alternativmedizin“ scheint nur von jenen nachgefragt, die bereits an ihre Nützlichkeit glauben. Kaum ein(e) Patient:in fragt eine Ärzt:in nach der Wirksamkeit bestimmter Globuli oder empfehlenswerter homöopathischer Injektionen. Mensch hat die freie Wahl, zusätzlich Globuli zu nutzen – oder darauf zu verzichten. Es scheint so, als fiele es den Homöopathie-Expert:innen leichter, die Kompetenz der Allopath:innen anzuerkennen, als umgekehrt. Und wohl niemand würde von homöopathischen Heilmitteln erwarten, dass sie mit gleicher Zuverlässigkeit wirken wie die sogenannte Schulmedizin. Wie, wenn sie es aber dennoch tun? Wie, wenn es gerade das Zusammenspiel verschiedener Kräfte wäre, das den entscheidenden Vorteil brächte? Ohne dass sich genau ermessen liesse, auf welche Weise Homöopathie und Allopathie zusammenwirken? Entscheidend scheint mir, dass „integrative Onkologie“ die Homöopathie integriert. Vielleicht wäre es an der Zeit, auch den umgekehrten Weg zu gehen. Integration, so weiss es die Politik, funktioniert am besten in beide Richtungen.

Ruth Schweikert, 57, ist Schriftstellerin und Dozentin. Sie schreibt Romane, Theaterstücke, Drehbücher und essayistische Texte. Sie lebt in Zürich, hat vier erwachsene Söhne und einen fünfzehnjährigen Nachzügler. Sie arbeitet an einem neuen Roman.»