HVS-News 2021/1 – Homöopathie in der Pandemie?

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Sich mit Homöopathie zu beschäftigen, sich öffentlich oder im privaten Kreis dazu zu bekennen, homöopathische Mittel zu nutzen – weil sie wirken -, oder gar jemandem eine homöopathische Behandlung ans Herz zu legen, diese oder jene Homöopathin zu empfehlen, ist in unseren Pandemie-Zeiten eine echte Herausforderung. Denn etliche Homöopathinnen scheinen (oder schienen) der heterogenen Gruppe der sogenannten Corona-Skeptikerinnen anzugehören, d.h. daran zu zweifeln, dass Covid19 existiert und, statistisch gesehen, deutlich tödlicher ist als auch schwere Grippewellen der letzten Jahre. Kommt hinzu die Skepsis vieler Homöopathinnen gegenüber Impfungen, während für viele Menschen, auch in meinem Umfeld, die Impf-ung gegen das Coronavirus seit Monaten die grösste Hoffnung darstellt. Im Allgemeinen ist die Corona-Skepsis (mit Ausnahme irgendwelcher Hardcore-Rechthaber) längst einer Corona-Massnahmen-Skepsis gewichen, wobei diese Unterscheidung nicht immer eindeutig zu treffen ist.

Dabei wäre eben diese Diskussion gesellschaftlich und politisch breiter zu führen, nicht nur in Bezug auf «Wirtschaft vs Leben/vermeidbare Tote», sondern viel allgemeiner, abstrahiert vom Starren auf die aktuellen Zahlen: Wie wollen wir leben und sterben? Was bedeutet Lebensqualität? Wie verhalten wir uns als Einzelne und als Gesellschaft zu der Tatsache, dass wir alle sterblich sind, dass zwar in den letzten Jahrzehnten die Lebenserwartung kontinuierlich gestiegen ist, aber dass weiterhin mit zunehmendem Alter die Kräfte nachlassen, dass chronische Krankheiten oder gesundheitliche Beeinträchtigungen für viele zum Alltag gehören – und die meisten Menschen ihr Leben trotzdem als lebenswert erachten? Was machen wir mit der Tatsache, dass die meisten Menschen, bevor uns «Corona» die Begrenztheit der Lebenszeit in Erinnerung rief, nicht unbedingt einen Livestyle pflegten, der auf ein möglichst langes Leben abzielte, sondern auf ein möglichst gutes, erfülltes, reiches, intensives, abenteuerliches, freies, etc.?

Ein befreundeter Homöopath hatte im letzten Frühjahr die Hoffnung geäussert, die Homöopathie könnte in Bezug auf Covid19 eine positive Rolle spielen, d.h. sich im Trial-and-Error diverser Behandlungen als (unerwartet) wirksam erweisen. Davon ist nichts zu hören oder zu lesen. Zwar waren bestimmte homöopathische Mittel, die im Internet als möglicherweise hilfreich auftauchten, zeitweise ausverkauft. Aber auf den Durchbruch der Homöopathie warten wir bislang vergeblich. Die Wissenschaft erlebt einen vielleicht nie gekannten Boom. Dass ihre Erkenntnisse nicht ausreichen, um gesellschaftliche Fragen zu beantworten, zeigt sich immer deutlicher. Wie, wenn hier die Kompetenz der Homöopathinnen und Homöopathen wieder ins Spiel käme? Als Expertinnen für Lebensqualität, auch und gerade angesichts der Grenzen der Medizin.

Ruth Schweikert

Ruth Schweikert, 56, ist Schriftstellerin und Dozentin. Sie schreibt Romane, Theaterstücke, Drehbücher und essayistische Texte. Sie lebt in Zürich, hat vier erwachsene Söhne und einen dreizehnjährigen Nachzügler. Sie arbeitet an einem neuen Roman.