Im Alter von 68 Jahren, viel zu früh und unerwartet, ist am 17. Dezember 2020 einer der bedeutendsten zeitgenössischen Homöopathen, Dr. Prafull Vijayakar, verstorben.
Dr. Vijayakar lebte in der indischen Metropole Mumbai und praktizierte fast 40 Jahre klassische Homöopathie. Aus einer Ärztefamilie stammend, arbeitete er nach dem Abschluss seines Medizinstudiums 1974 zuerst einige Jahre als Arzt in einem Spital, bevor er, nach einem kurzen Abstecher in die Komplex-Homöopathie, sein restliches Leben der klassischen Homöopathie verschrieb.
2004, nach dem abgeschlossenen Homöopathie-Studium an der SHI-Homöopathieschule Zug, absolvierten wir im homöopathischen College-Spital Mumbadevi in Mumbai ein dreimonatiges Praktikum. Der Zufall wollte es, dass wir nach kurzer Zeit mit Dr. Vijayakar persönlich in Kontakt kamen. Trotz seiner grossen lokalen Popularität lud uns Dr. Vijayakar in seiner generösen und offenen Art sofort ein, an den folgenden Tagen bei ihm in der eigenen Praxis zu hospitieren. Es sollten wahrlich bleibende und prägende Eindrücke werden. Die riesige Patientenmenge in der Praxis, aber vor allem die täglich sichtbaren spektakulären Erfolge, liessen die strapaziösen Arbeitstage (oft von morgen früh bis nach Mitternacht) wie im Fluge vergehen. Dies war der Start eines engen 17-jährigen Kontaktes mit zahlreichen Wochen direkt in der lebhaften Praxis und unzähligen Seminaren und Weiterbildungen. Wir sind sehr dankbar, dass wir von seinem immensen Wissensreichtum bezüglich Homöopathie und Medizin profitieren durften. Durch die permanente Weiterentwicklung seiner Methode wurden wir Studentinnen und Studenten ständig neu inspiriert. Seine Leidenschaft für die Homöopathie und seine Art, diese weiter zu vermitteln, hat uns nachhaltig geprägt.
Dr. Vijayakar entwickelte seine Art von klassischer Homöopathie unter dem Namen Predictive Homoeopathy. Der Name «vorhersehbare Homöopathie» basiert auf den Erkenntnissen der Embryologie. Dabei geht es primär um eine Präzisierung der Hering’schen Regeln und des dadurch prognostizierbaren Heilungsverlaufes. Wer ein genaues Verständnis der Krankheitsentwicklung und eine korrekte Zuteilung der jeweiligen Krankheiten zum passenden Keimblatt vornehmen kann, sollte voraussagen können, was im Follow-up zu erwarten ist.
Zahlreiche Werkzeuge für die tägliche Praxis hat Vijayakar aus der Verbindung von modernen medizinischen Erkenntnissen und dem «alten» homöopathischem Wissen entwickelt. So sind seine Erklärungen und Anwendungen der Miasmentheorie eine Analogie zu den grundsätzlichen Verteidigungsstrategien der Zellen. Für die sogenannte genetisch konstitutionelle Verschreibung lehrte Vijayakar, dass es zentral ist, zwischen Geno- und Phänotyp zu unterscheiden, und als Hilfsmittel für die Definition von unterschiedlichen Menschentypen in der Praxis benützte er beispielsweise auch die Bedürfnis-Theorie von Maslow.
Im direkten Patientenkontakt war der indische Homöopathie-Meister besonders nahbar. Sein echtes Interesse am Patienten und dessen Geschichte machten seine Fallaufnahmen stets zu einem besonderen Erlebnis. Seine spezielle Fähigkeit, bei den meisten Patientinnen in kurzer Zeit die mentale Konfliktsituation aufzuspüren und damit eine Verknüpfung zur individuellen Empfindlichkeit und der daraus resultierenden körperlichen Leiden herzustellen, konnte er in den letzten Jahren mit dem «Mind of Pathology»-Konzept immer deutlicher und auch für seine Schülerinnen und Schüler anwendbar vermitteln.
Zusammen mit seinem Sohn Dr. Ambrish Vijayakar und seinem grossen Assistenz-Team machte Vijayakar seine Predictive Homoeopathy in weiten Teilen Indiens bekannt durch die regelmässigen kostenlosen Camps «Hope for Hopeless». Die tausendfache Behandlung von behinderten Kindern, schweren psychischen Erkrankungen und angeborenen genetischen Störungen war in den letzten Jahren die grosse Leidenschaft Vijayakars. Mit spektakulären und auch für Homöopathinnen kaum für möglich gehaltenen Resultaten konnte er eindrücklich demonstrieren, wie er selbst die Grenzen der Homöopathie einschätzte: «The sky is the limit»!
Wir werden unseren Lehrer Prafull SIR, wie er von seinen indischen Studentinnen und Studenten genannt wurde, sehr vermissen. Er hatte immer ein offenes Ohr für Fragen und Diskussionen, verschrieb sein ganzes Leben vollumfänglich der klassischen Homöopathie und war sich nicht zu schade, eigene Fehler einzugestehen und auch an grossen Seminaren über Misserfolge zu sprechen. Er war ein Praktiker mit einem immensen Wissensdurst und einem wahrhaften Interesse, unsere Zunft einen grossen Schritt vorwärts zu bringen.
Marc Bürgler und Simon Wegmüller