Die Medizin, habe ich vor ein paar Jahren gelesen, trüge nur 5% zur Weltgesundheit bei. Das hat mich offenbar nachhaltig beeindruckt, jedenfalls habe ich die Zahl im Gedächtnis behalten. Nie sind wir so gründlich in Zahlenmeeren – ja, was denn, verschwunden, versunken? – wie während der Corona-Pandemie. Keine Zahl, die nicht täglich, stündlich, minütlich kommuniziert und aktualisiert wurde, positive C-Tests in verschiedenen Ausführungen, Viruskonzentrationen im Abwasser, Spitaleintritte, Verstorbene mit oder an oder in Zusammenhang mit etc. – Auch Zahlen zu den vermuteten, geschätzten und verbürgten Kosten der diversen Massnahmen wurden pflichtschuldigst geliefert: Was zuvor Tabu schien, die Transparentmachung der längst realen Ökonomisierung von Medizin und Gesundheitspolitik, wurde nun zum Rettungsanker und Allheilmittel. Und alle machten und machen mit. Zugleich wird immer deutlicher, dass damit weder «die Politik» noch «die Bevölkerung» an Übersicht gewinnt. Welche Massnahme kostet effektiv wieviel und welchen Nutzen hat sie, welche Daten werden erfasst und welche nicht, weil kein Mensch sie als relevant erkannt hat? Ist es nicht einfach so, dass zu viele Akteure und Parameter auf zu komplexe und vielfältige Weise miteinander interagieren, als dass sich einzelne Elemente aus diesen Rechnungen zuverlässig extrahieren liessen? Und was bedeutete dieser Befund für die Homöopathie?
Auch für mich war (und bleibt) die „Ökonomisierung“ diverser Lebensbereiche ein Schreckgespenst – ob in Kunst und Kultur, in der Liebe oder in der Medizin: was könnte sie anderes bedeuten als die Quantifizierbarkeit von allem und allen, die restlose Übersetzbarkeit von (subjektiver) Qualität in (scheinbar) objektive Masseinheiten? Ist der Wert des Lebens quantifizierbar? Der volkswirtschaftliche Schaden diverser Krankheiten ist offenbar berechenbar. Gilt das auch für den volkswirtschaftlichen Nutzen, den jede medizinische Behandlung auch generiert? Und wie steht es in dieser Hinsicht mit der Homöopathie? Was aber, wenn das menschliche Leben ganz grundsätzlich mehr Schaden verursacht als Nutzen bringt? Etwa beim Erreichen der Klimaziele? Was bedeutete dann die Ökonomisierung der Medizin? An welchem Mass werden ihre Leistungen gemessen? Und wer entscheidet darüber?
Je länger ich darüber nachdenke, umso dringender scheint mir diese letzte Frage: Wer entscheidet? Werden es bald Maschinen bzw. Algorithmen sein, Expertinnen und Wissenschaftler oder die (gut informierten!) Stimmbürgerinnen und -bürger?
Ein sorgsamer, gut gerechtfertigter Einsatz begrenzter öffentlicher Ressourcen ist unvermeidlich und ethisch geboten. Ökonomisierung bedeutet nichts anderes, als dass wir Entscheidungen treffen; und wo Ressourcen nicht unendlich sind, macht es Sinn, über Verteilung zu sprechen. Vielleicht sollten wir diese Fragen aus der Corona-Pandemie mitnehmen, statt in Zahlenmeeren zu ertrinken.
Kolumne von Ruth Schweikert
Ruth Schweikert, 57, ist Schriftstellerin und Dozentin. Sie schreibt Romane, Theaterstücke, Drehbücher und essayistische Texte. Sie lebt in Zürich, hat vier erwachsene Söhne und einen fünfzehnjährigen Nachzügler. Sie arbeitet an einem neuen Roman.»