Die Durchfallquote bei der Höheren Fachprüfung HFP ist in der Fachrichtung Homöopathie deutlich gesunken, jedoch waren es im April 2019 immer noch 28.6 Prozent. Welches die häufigsten wiederkehrenden Stolpersteine für Prüfungsteilnehmende sind, beantwortet uns Markus Senn, Präsident der Qualitätssicherungskommission QSK der Organisation der Arbeitswelt Alternativmedizin OdA AM.
Sogar langjährig und erfolgreich praktizierende Homöopathinnen und Homöopathen können durch die Prüfung fallen. Markus, kannst Du uns sagen woran dies deiner Meinung nach liegt und was geändert werden könnte?
Langjährigen, erfahrenen Therapeutinnen ist das neue Berufsbild oft nicht geläufig. Während ihrer Ausbildung gab es dieses noch nicht. Sie haben sich dann in ihrer jahrelangen Arbeit ein eigenes gebildet, welches aber nicht deckungsgleich ist mit dem neuen Berufsbild. Daher ist es besonders für Therapeuten und Therapeutinnen, die ihre Ausbildung vor vielen Jahren absolviert haben, wichtig, dass sie das neue Berufsbild Punkt für Punkt durchgehen und sich fragen, wie sie das in ihrer Praxis umsetzen. Es geht darum aufzuzeigen, wie die geforderten Handlungskompetenzen in der Arbeit umgesetzt werden.
Welches sind die nötigen Handlungskompetenzen?
Alle im Berufsalltag wesentlichen Handlungskompetenzen sind im Berufsbild nach dem Arbeitsmodell IPRE detailliert beschrieben und zeigen die vier unterschiedlichen Phasen unserer Arbeitsprozesse auf.
IPRE:
Information: Wie komme ich zu den relevanten Informationen? (Anamneseprozesse)
Planung: Was bedeuten diese Informationen, welche Konsequenzen ergeben sich daraus? (Analyseprozesse, Behandlungsplanung)
Realisation: Wie setze ich diese Behandlungsplanung konkret um? (Anwendungsprozesse)
Evaluation: Was hat sich in der Folge aus dem Handeln ergeben? Erfolg, Misserfolg der Behandlung? (Überprüfungsprozesse)
Was wird in der Fall-Arbeit (P1) häufig falsch oder nicht gut genug gemacht?
Während unserer Arbeit machen wir uns andauernd Überlegungen, d.h. innert Minuten checken wir die (vier) Prozessphasen mit entsprechenden Analysen, Fragen und an uns selbst gegebenen Antworten. Es ist darum wichtig, dass Reflektion, Denkweise und Begründungen, die in der Arbeit laufend vorgenommen werden, für die Expertinnen auch nachvollziehbar sind und sichtbar gemacht werden. Wesentliche Überlegungen in der Fallstudie müssen dargestellt werden, beispielsweise „Die Information, dass die Patientin jede Nacht um drei Uhr aufwacht und zwei Stunden lang nicht mehr einschlafen kann, bedeutet für mich das Folgende:…“
Oder bei der „Evaluation“ geht es darum aufzuzeigen, wie regelmässig reflektiert wurde, ob sich durch die Behandlung etwas verbessert respektive verändert hat. Oft werden Behandlungen zu statisch oder schematisch durchgeführt, das heisst in den Darstellungen wird lediglich die jeweilige Behandlung aufgezeigt ohne nähere Beleuchtung was sie genau bewirkt hat, bzw. wie diese evaluiert wurde. Es ist wirklich wichtig, in der Arbeit aufzuzeigen was sich verändert hat und warum man die Behandlung angepasst oder unverändert weiter gemacht hat. Z.B. „Die Beschwerden zeigen (aufzeigen woran dies erkennbar war), dass es in Richtung Gesundung geht. Deshalb bin ich beim Mittel geblieben.“
Der Behandlungsauftrag muss auch klar definiert werden. Wenn beispielsweise Nebendiagnosen bestehen und es wird nicht klar ausformuliert, welche Relevanz diese haben oder was davon behandelt werden soll, bzw. was nun das genaue Behandlungsziel ist, welches mit der Patientin ausgemacht wurde. Ein Behandlungserfolg hingegen ist weder Bedingung noch Garant zum Bestehen der Prüfung.
Was muss bei der Fallauswahl beachtet werden?
Ein Fall sollte gewählt werden, der es erlaubt, all die im Leitfaden geforderten Kompetenzen aufzeigen zu können. Ein gewählter Fall, der zu einfach ist, erlaubt es meist nicht, alle notwendigen Kompetenzen zu beschreiben. Nicht beschriebene Kompetenzen müssen von den Expertinnen als nicht erfüllt bewertet werden. Oder es wird ein zu komplexer Fall beschrieben, den man selbst in den vorgegebenen 50 Seiten nicht adäquat vorstellen kann.
Ein weiterer Stolperstein könnte sein, dass ein Fall gewählt wurde, wo keine eigenen schulmedizinischen Überlegungen und weitere Differentialdiagnosen mehr gemacht wurden, weil die ärztliche Diagnose bereits bestand und einfach übernommen wurde. Damit wird nicht aufgezeigt, dass die im neuen Berufsbild definierten schulmedizinischen Kompetenzen als Erstanlaufstelle vorhanden sind. Unsere Kompetenzen und Rolle als Erstanlaufstelle muss in der Arbeit dargestellt werden. Auch die medizinischen Einschätzungen müssen im Laufe der Arbeit immer wieder mitbetrachtet werden, sodass aufgezeigt werden kann, wie sich die medizinische Situation verändert hat. Zum Beispiel wie sich Menstruationsbeschwerden gebessert oder Hämoglobinwerte bei einer Anämiebehandlung konkret verändert haben. Es ist wichtig, einen Fall zu wählen, der erlaubt, selbst zu analysieren und zu interpretieren.
Was muss bei der Zielsetzung beachtet werden?
Eine schlechte Zielsetzung wäre: „Ich schreibe diese Arbeit, weil ich sie schreiben muss“. Positiv wäre beispielsweise, eine berufliche Zielsetzung aufzuzeigen. Ziele könnten folgende sein: „Ich habe wenig Erfahrung mit Migräne-Patientinnen und nutze diese Arbeit, resp. diesen Fall, um mich in dieser Thematik weiterzubilden und sie zu vertiefen,“ oder „Mein Ziel ist es, meine bisherige Arbeitsweise mit dem neuen Berufsbild abzugleichen und mich diesbezüglich zu reflektieren.“ Es ist wichtig, zum Schluss der Arbeit auf diese konkrete Frage der Zielsetzung nochmals zurück zu kommen.
Welche Punkte kommen dir sonst noch in den Sinn, die man beachten sollte?
In der Anamnese muss ganzheitlich nachgefragt werden. Beispielsweise, wie es in der Beziehung aussieht, wie das Familienleben empfunden wird, wie das emotionale Befinden ist, etc. Bei der Anamnese wird zwischen quantitativen und qualitativen (nochmals tiefer nachfragen) Aspekten unterschieden. Es ist wichtig, nochmals genauer nachzufragen: „Was genau bedeutet es, dass Sie schlecht schlafen“? „Welche Gründe gibt es dafür“? Mit der Aussage „Durchschlafstörungen“ darf man sich nicht begnügen, man sollte schon etwas tiefer nachfragen. Dies gebietet uns das neue Berufsbild, welches ein ganzheitliches Menschenbild beinhaltet und diese Sicht auch für die Krankheitsdefinition in Anspruch nimmt.
Oder wurden mit der Patientin deren Ressourcen ermittelt? Was hilft ihr, mit der Krankheit besser umzugehen? Was hilft sonst noch? Was schadet oder verschlimmert die Situation? Was gefährdet das Gesundwerden? Es muss aufgezeigt werden, wie dies zusammen mit der Patientin eruiert und erarbeitet wurde.
Sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Teil fehlen oft die Begründungen, die es für die Expertin nachvollziehbar machen, warum die Therapeutin entsprechend handelt. Wir alle arbeiten ja mit gewissen Automatismen und Routinen; dies erfordert viel Reflexionsarbeit, um das für uns Selbstverständliche entsprechend zu beschreiben und so für die Expertinnen sichtbar zu machen.
Was ist bei den Fachgesprächen (P2) wichtig?
Sehr wichtig ist die Kommunikations- oder Diskussionsbereitschaft bei den Gesprächen. Ziel des Fachgesprächs ist es, die Kommunikations- und Beziehungskompetenz zu testen. Daneben soll das vorhandene Wissen ausgebreitet oder neue Gesichtspunkte erläutert werden. Wenn Therapeutinnen einsilbig antworten oder einfach nochmals wiederholen, was bereits in der Fallstudie zu diesem Punkt geschrieben wurde, reicht das nicht aus. Das Gespräch erlaubt der Therapeutin aufzuzeigen, was sie zu diesem Punkt sonst noch alles weiss und dass sie in der Lage ist, das Thema von diversen Seiten zu beleuchten. Wenn eine Analyse durch die Expertin auch provokativ angezweifelt wird, geht es darum zu erklären, warum alles stimmig und konzeptionell korrekt ist. Wer genervt reagiert oder knapp antwortet, anstatt sein Wissen zu präsentieren und sich einer Diskussion zu stellt, zeigt keine Kommunikationskompetenz.
Beim Gespräch im direkten Prüfungsteil darf man sich übrigens von der Mimik der Expertinnen nicht verunsichern lassen, denn die Expertinnen dürfen nicht kommentieren, ob die Antwort gut war oder nicht. Sie beurteilen nur einzelne Kriterien und kennen weder beim P1 noch P2 das Schlussergebnis.
Wichtig ist auch nachzufragen, wenn eine Frage nicht klar ist. Wenn die Fragen zu allgemein formuliert sind, sodass man vieles dazu erzählen könnte, kann zum Beispiel gesagt werden, dass hier drei Aspekte wesentlich sind und auf welchen davon genauer eingegangen werden soll.
Wenn eine Prüfung nicht bestanden wurde, gibt es die Möglichkeit der Akteneinsicht. Wie läuft das genau ab und findest du es ratsam, diese Einsicht wahrzunehmen?
Die Akteneinsicht wird gemäss Vorschrift des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation SBFI durchgeführt. Sie kann auch rein schriftlich erfolgen. Bei der kostenpflichtigen Akteneinsicht vor Ort sind die Prüfungsleitung und mindestens eine Chefexpertin dabei. Es geht darum, anhand von ein/zwei Beispielen aufzuzeigen, wieso die Prüfungsleistung als nicht ausreichend bewertet wurde. Die Zeit bei der Einsicht reicht nicht aus, um zu diskutieren oder auf jeden einzelnen Punkt einzugehen. Man erhält aber das Beurteilungsraster, welches bei jedem einzelnen Kriterium erläutert, was als fehlerhaft bewertet wurde, bzw. was gefehlt hatte für ein positiveres Resultat. Dieses Beurteilungsraster dient dann dazu, Punkt für Punkt zu studieren und mit dem Leitfaden zu vergleichen und sich entsprechend gut für die Wiederholung vorzubereiten.
Wenn das Prüfungsresultat und die Akteneinsicht für den Prüfling überhaupt nicht nachzuvollziehen sind, besteht die Möglichkeit einer Beschwerde. Was sind deine diesbezüglichen Erfahrungen?
Mit der verbesserten Akteneinsicht und der stetigen Schulung der Expertinnen für gut nachvollziehbare Begründungen ihrer Bewertung sind im letzten Jahr die Beschwerden stark zurückgegangen. Die wenigen vom SBFI bisher gutgeheissenen Beschwerden hatten in der Regel immer mit einem klaren Verfahrensfehler seitens unserer Expertinnen zu tun. Solche Fehlerquellen haben wir dank unserer Schulungen mittlerweile weitgehend aufgehoben.
Noch ein paar Tipps zum Schluss?
Personen, die das Diplom erfolgreich erworben haben, stellen ihre Arbeiten oft anderen als Vorlage zur Verfügung, ohne zu wissen, wie gut oder wie knapp sie bestanden haben. Wir raten deshalb sehr davon ab. Übernommene Textpassagen werden übrigens als Plagiate erfasst.
Als gute Vorbereitung empfehlen wir vor allem für die Fallstudie, einen Vorbereitungs-Kurs einer Homöopathieschule zu besuchen. Auch die Infoveranstaltungen der OdA AM sind empfehlenswert.
Die nächsten Vorbereitungskurse der Schulen sind auf www.hvs.ch unter Aus-/Fortbildung aufgeführt und die Infoveranstaltungen der OdA AM auf www.oda-am.ch/de/aktuell/agenda
Lieber Markus, im Namen unserer HVS-Mitglieder danke ich dir herzlich für dieses Gespräch und für all deine Informationen und Tipps.
Das Interview führte
Jsabelle Tschanen
Zu den Prüfungsteilen P3 und P4 werden wir in den nächsten HVS-News berichten